Biologische Strahlenwirkung

Inhaltsverzeichnis

Funktions- und Wirkungsprinzip

Grundlegend für die biologische Strahlenwirkung ist die Veränderung und Abtötung von Zellen durch Schädigung ihrer DNA oder umliegenden für den Teilungsprozess relevanten Strukturen. Diese Schäden werden insbesondere durch Ionisationen und Anregungen im Gewebe hervorgerufen, weshalb hier weitere Dosisgrößen vorgestellt werden. Grundsätzlich lässt sich das Wirkungsprinzip in die physikalische, physikochemische, chemische und biologische Phase unterteilen.

Der Prozess beginnt mit der weniger relevanten direkten Schädigung, bei der durch physikalische Wechselwirkungsprozesse Biomoleküle durch Anregungen und Ionisationen modifiziert oder zerstört werden. Dieser Effekt tritt nach wenigen Femtosekunden unmittelbar mit dem Eintritt der Strahlung ein. In der nachfolgenden physikochemischen Phase kommt es entweder zur Rekombination der instabilen Primärprodukte oder die Ausbildung von freien Radikalen beginnt.

Bei der indirekten Strahlenwirkung werden durch die Wechselwirkungsprozesse umliegende Medien (z. B. Zellwasser) modifiziert. Da menschliche Zellen überwiegend aus Wasser bestehen, entstehen bei diesem biochemischen Prozess neben üblichen Spaltprodukten, freie Radikale (z. B. H2O2, HO2, H2, OH) (Radiolyse).

In der letzten, der biologischen Phase kommt es durch die direkt und indirekte Einwirkung zu DNA-Schäden (Einzelstrang- & Doppelstrangbrüchen, Basenschäden), Zerstörung von Aminosäure-Bindungen oder Denaturierung von Proteinen. Aus den Veränderungen der zellulären Strukturen (z. B. Zellmembran, Zellteilungsapparat, Mitochondrien) können Mutationen, Tumorindikationen oder der Zelltod resultieren. Potenziell sind alle DNA-Schäden durch das Zusammenspiel von Glykosylase, Endonuklease, Polymerase und Ligase reparierbar und nicht jeder DNA-Schaden muss einen negativen Einfluss auf die Funktionalität der Zelle haben. Bis sich ein Zellschaden biologisch bemerkbar macht können Millisekunden, Stunden, Tage, aber auch Jahre oder sogar Jahrzehnte vergehen.

Äquivalentdosis

Die Äquivalentdosis H gewichtet die Energiedosis E mit einem Qualitätsfaktor Q, welcher ein Maß für die Ionisierungswahrscheinlichkeit der jeweiligen Strahlenart darstellt.

H = D \cdot Q

So ist α-Strahlung bei identischer Energiedosis aufgrund der höheren Ionisationsdichte biologisch deutlich schädlicher als Photonenstrahlung. Durch die Einführung dieser Größen, lässt sich die Strahlenwirkung der Strahlungsarten im Gewebe miteinander vergleichen. Zur praktischen Berechnung der Äquivalentdosis wird der Qualitätsfaktor Q mit Strahlungs-Wichtungsfaktoren w_\text{T} genähert. Der Wert für Photonenstrahlung dient als Referenz und ist definitionsgemäß 1. Für Elektronen und Positronen liegt er ebenfalls bei 1, während der Wert für Protonen, Neutronen, α-Teilchen und schwere Ionen je nach Energie bis über 20 steigen kann. Nachfolgend eine Übersicht über einige Strahlungs-Wichtungsfaktoren w_\text{T}, die der Strahlenschutzverordnung Anlage 18, Teil C: Werte des Strahlungs-Wichtungsfaktors und des Gewebe-Wichtungsfaktors entnommen werden kann..

Strahlungsart Energie Strahlungs-Wichtungsfaktor
Photonen
Egal
1
Elektronen, Myonen
Egal
1
Protonen, geladene Pionen
Egal
2
Alphateilchen, Spaltfragmente, Schwerionen
Egal
20
Neutronen
< 1 MeV
2,5 + 1,82 exp(-(ln(E)²/6)
Neutronen
> 1 MeV und < 50 MeV
5,0 + 17,0 exp(-(ln(2 * E)²/6)
Neutronen
> 50 MeV
2,5 + 3,25 exp(-(ln(0,04 * E)²/6)

Zur Unterscheidung zur Energiedosis bzw. zur Unterscheidung zwischen physikalischer und biologischer Dosisgröße, wird die Äquivalentdosis in Sievert Sv = J / kg angegeben.

LET

Alternativ zur Äquivalentdosis eignet sich der Lineare Energietransfer LET zur Einordnung der Strahlenwirkung. Der LET ist ein indirektes Maß für die Anzahl erzeugter Ionen entlang des Weges eines ionisierenden Teilchens, was im Wesentlichen ein Maß für die biologische Wirksamkeit ist. Er beschreibt die abgegebene Energie \Delta E des Primärstrahls auf der zurückgelegten Wegstrecke \Delta s des Teilchens

LET = \Delta E / \Delta s

Bei der Charakterisierung der Teilchenart wird zwischen locker (LET < 3,5 \text{ keV / µm}) und dicht ionisierender Strahlung ((LET > 3,5 \text{ keV / µm}) differenziert. Der LET steigt mit der Masse und Ladung des Teilchens und ist antiproportional zur Teilchengeschwindigkeit, weshalb Photonen, Elektronen und Positronen zur ersten und Protonen, Neutronen, α-Teilchen und schwere Ionen zur zweiten Strahlenart zählen. Aufgrund der quadratischen Abhängigkeit des LET von der Geschwindigkeit, kann es passieren, dass eine Teilchenart ihre LET-Eingruppierung wechselt. Dieser Effekt wird insbesondere in der Partikeltherapie ausgenutzt, bei der die Teilchen auf dem Target immer langsamer werden (LET steigt). Das hat zur Folge, dass im Target eine höhere Dosis appliziert wird, als auf dem Weg dahin (Bragg-Peak).

Effektive Dosis

Die effektive Dosis E entspricht der Summe der mit Strahlungs-Wichtungsfaktoren w_\text{R} und Gewebe-Wichtungsfaktoren w_\text{T} gewichteten Energiedosis (s. auch Physikalische Grundlagen) D. Also der Summe der Produkte aus Äquivalentdosis H_\text{T} und den Gewebe-Wichtungsfaktoren, weshalb sie früher auch effektive Äquivalentdosis genannt wurde. Die Gewebe-Wichtungsfaktoren beschreiben die Empfindlichkeit der Organe gegenüber ionisierender Strahlung. So sind z. B. die Keimdrüsen deutlich sensibler als die Haut.

E = \sum_\text{T} w_\text{T} \cdot H_\text{T} = \sum_\text{T} w_\text{T} \cdot (\sum_\text{R} w_\text{R} \cdot D_\text{T,R})

Sie ist ein Maß für die Strahlenexposition, das zur Risikobewertung unterschiedlicher Expositionen im Hinblick auf stochastische Strahlenschäden verwendet wird. Die effektive Dosis bezieht sich immer auf den gesamten Körper. Aus gleicher effektiven Dosis resultiert das gleiche stochastische Risiko einer Strahlenwirkung. Rückschlüsse auf die Ausprägungen deterministischer Effekte sind nicht möglich. Ebenso ist das Rechenmodell nicht auf individuelle Expositionen anwendbar.

Die Gewebe-Wichtungsfaktoren sind genau wie die Strahlungs-Wichtungsfaktoren in der Strahlenschutzverordnung Anlage 18, Teil C: Werte des Strahlungs-Wichtungsfaktors und des Gewebe-Wichtungsfaktors zu finden. Zur Veranschaulichung, wie sich die Faktoren entwickelt haben, sind in der nachfolgenden Tabelle die Gewebe-Wichtungsfaktoren sowohl aus der neueren Veröffentlichung ICRP 103 aus dem Jahr 2007, als auch die alten Faktoren aus dem ICRP 60 Report von 1990 aufgelistet.

Gewebe oder Organ ICRP 60 (1990) ICRP 103 (2007)
Knochenmark (rot)
0,12
0,12
Dickdarm
0,12
0,12
Lunge
0,12
0,12
Magen
0,12
0,12
Brust
0,05
0,12
Keimdrüsen
0,20
0,08
Blase
0,05
0,04
Speiseröhre
0,05
0,04
Leber
0,05
0,04
Schilddrüse
0,05
0,04
Haut
0,01
0,01
Knochenoberfläche
0,01
0,01
Gehirn
-
0,01
Speicheldrüsen
-
0,01
Andere Organe und Gewebe
0,05
0,12

Die restlichen Gewebe unter Andere Organe und Gewebe sind: Nebennieren, obere Atemwege, Gallenblase, Herz, Nieren, Lymphknoten, Muskelgewebe, Mundschleimhaut, Bauchspeicheldrüse, Prostata (Männer), Dünndarm, Milz, Thymus und Gebärmutter/Gebärmutterhals (Frauen).  Die Werte entsprechen den relativen Beiträgen der einzelnen Gewebearten zum stochastischen Gesamtrisiko bei einer Exposition mit Photonen und gleicher Dosis in allen Organen. Aus diesem Grund gilt

\sum_T w_\text{T} = 1

Die Werte der Gewebe-Wichtungsfaktoren stammen aus epidemiologischen Studien und werden aktuell noch über alle Geschlechter und Altersgruppen gemittelt, obwohl bekannt ist, dass Unterschiede existieren. So sind insbesondere jüngere Menschen, inbesondere Kinder strahlensensibler als ältere Menschen. 

Rechenbeispiel: Nachfolgend wird die Berechnung der effektiven Dosis anhand von zwei Photonenbestrahlungen gezeigt.

  1. Ganzkörperbestrahlung mit 1,2 Gray (w_\text{T} = 1)
  2. Bestrahlung der Schilddrüse mit 30 Gray ((w_\text{T} = 0,04)

In beiden Fällen beträgt die effektive Dosis 1,2 Sievert – die Strahlenwirkung ist identisch.

Stochastische und deterministische Strahlenwirkungen

Strahlenwirkungen lassen sich in zwei Arten, die stochastischen und deterministischen, unterteilen.

Die stochastische Strahlenwirkung beschreibt Effekte, deren Auftreten zufällig ist. Darunter fallen genetische Effekte wie zum Beispiel die Karzinogenese (Tumorentstehung) oder hereditäre Schäden. Die Auftrittswahrscheinlichkeit ist proportional zur Dosis und steigt mit bestrahlten Volumen. Der Ausprägungsgrad ist unabhängig von der Dosis. Für stochastische Schäden ist zurzeit noch kein Schwellenwert definiert, weshalb sie insbesondere bei kleinen Strahlenexpositionen (Strahlenschutz) relevant sind.

Die deterministischen Strahlenschäden beschreiben Effekte, deren Ausprägungsgrad proportional zur Dosis ist. Darunter fallen zum Beispiel Hautrötungen, Katarakte oder die Sterilität. Es existieren gewebeabhängige Schwellenwerte, die den Dosiswert definieren, ab dem keine Zellreparatur mehr möglich ist. Die Auftrittswahrscheinlichkeit ist unabhängig vom bestrahlten Volumen. Deterministische Schäden sind relevant bei höheren Einzeldosenbelastungen (Strahlentherapie, Strahlenunfälle, Hochdosis-Interventionen).

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